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Die Kunst des Lebens

Das Leben kann schön sein, wenn man viele Freunde hat und jeden Tag etwas Neues erlebt. Doch ein mancher Mensch möchte nicht in einem solchen Stress leben. Manch einen zieht es in die Einsamkeit. So kommt es, dass man morgens von den Murmeltieren geweckt wird und im kalten spritzigen Bergbach vor seiner Hütte badet, einen Ausblick über die Bergspitzen hat und der nächste Supermarkt 15 Kilometer Fußweg entfernt ist. Schöne Natur, aber keine Gesellschaft. Das ist alles, was sich Anette schon ihr ganzes Leben gewünscht hatte, und gerade das wird jetzt zu langweilig. Früher hatte sie mit Acryl die schönsten Berge zu Papier gebracht und jede Pflanze aufs Genauste abgezeichnet. Heute liegen ihre Zeichensachen im Schrank.

Ja, Abenteuer wünscht man sich in solche Momenten. Abenteuer wie aus den Büchern, die fast jede Wand in ihrer Hütte einnehmen.

Doch Anette ist alleine. Alleine und einsam, umgeben von Kunstwerken, die keine Bedeutung haben, und Bergen, die nicht zu ihr sprechen. 

Einsam sitzt sie auf ihrem Küchenstuhl und wärmt die Hände an einer dampfenden Teetasse. Es wird immer kälter draußen, die Blätter färben sich gold und rot, als würde eine unsichtbare Hand ihren Pinsel über den Wald schwingen und bunte Sprenkel auf dem Grün hinterlassen. Es juckt Anette in den Fingern, diese Schönheit zu zeichnen - aber wofür? Wofür ist ihre Kunst da? Sie hat aufgehört, Anette zu erfreuen und außer ihr hat kein Mensch sie je gesehen. Wahrscheinlich würden sie ihre Bilder sowieso hässlich finden. 

Um Anette herum hängen ihre bunten Bilder. Doch ihrer Seele ist grau. 

Seufzend stellt sie ihre Tasse auf den Tisch, der Tee noch nicht leer getrunken. Sie zieht sich Mantel und Stiefel an und tritt vor die Tür ihrer kleinen Hütte, atmet die frische Bergluft ein, die ihre düsteren Gedanken oft wegwischt und ihr die schönen Seiten des Lebens näherbringt. Doch so leicht ist es leider nicht immer. 

Während Anette durch den Wald läuft, der die Bergspitzen säumt und versucht, die Schönheit in dem sprudelnden Wasser, dem rauschenden Wind und dem glitzernden Schnee weiter oben zu erkennen, wird es langsam dunkler. Sie macht sich keine Sorgen. Sie kennt alle Wege. Außerdem hat ein Teil von ihr bereits aufgegeben, sich um sich selbst zu sorgen - aber das ist eine Tatsache, die sie nur ungern zugibt, am allerwenigsten vor sich selbst. Nicht dass es jemanden anderen geben würde, der ihr zuhören würde. 

Während ihre Stiefel so das Herbstlaub durchwühlen und einige Vögel trällernd davonfliegen, ihr der kalte Wind ins Gesicht bläst und der Sonnenuntergang die Berge orange malt, fragt sich Anette mutlos, wie sie ihr Leben ändern könnte. 

Sie hatte es nie besonders leicht gehabt. Soziale Kontakte zu knüpfen war ihr immer schon schwergefallen, in der Schule und später auch in ihrem schlecht bezahlten Bürojob. Dafür hatte sie gemalt. In Zeichenblöcke, auf Leinwände, auf ihren Schulblock. Gemalt, gemalt, gemalt, bis aus einem mäßig talentierten Mädchen irgendwann eine wahre Künstlerin geworden war. Aber nie hatten andere Augen ihre Bilder gesehen und nie hatte sie sich selbst in ihren Kunstwerken wiedererkannt. Das Malen war ihre Leidenschaft, ihre Flucht vor der Realität. Wie fröhlich sie gewesen war, als die Hütte in den Bergen zum ersten Mal in ihrem Skizzenblock aufgetaucht war. Endlich ein Ziel, einen Wunsch. So unerfüllbar, aber letztendlich doch die Wahrheit. Und nun, fünf Jahre später, wieder Zweifel. 

Zweifel, ob dies wirklich alles ist, für was Anette lebt. Sie will der Welt helfen. Will eine Veränderung bewirken. Sie weiß, die Kunst ist ihre Leidenschaft, ihr Weg. Aber sie kann nicht mit anderen Menschen in Kontakt treten. Das nächste Dorf bereitet ihr Angst, die nächste Stadt Panik. Sie will so weiterleben wie bisher, frei und unbeschwert. Aber sie sieht immer mehr, dass das keine Option ist. Nicht, wenn sie glücklich werden will; nicht, solange sie nicht weiß, ob es doch mehr gibt in ihrer Welt. Sie nimmt einen tiefen Atemzug der kalten Luft. 

Wahrscheinlich braucht sie einfach nur ein Abenteuer. Irgendein Erlebnis, das ihr die Augen öffnet und ihr zeigt, was sie wirklich will. So ist es doch immer in Geschichten. Es gibt nie einen Protagonisten, der selbst loszieht und sein Leben verändert. Wie verdammt unrealistisch das doch ist. Sie hatte sich ihr Leben in den Bergen selbst verwirklichen müssen. Und sie musste es auch selbst schaffen, wieder herauszukommen. 

Anette bleibt stehen. Ohne sich bewusst geworden zu sein, wohin ihre Füße sie getragen haben, steht sie unweit des Wasserfalls, der sich sprudelnd in das Tal unter ihren Füßen ergießt. Ihren Sicherheitsabstand dazu wahrend, blickt sie in die Tiefe. Ein Sturz hinunter würde ihren Tod bedeuten. Kurz spielt sie mit dem Gedanken. Durch die Luft wirbeln, so schnell, so schmerzlos, ein Aufprall und dann das Ende. Keine Probleme mehr, keine Fragen... 

Sie weicht zurück. Nein. Noch nicht. Irgendwann wird sie sowieso sterben. Anette dreht sich um und eilt den Weg zurück durch die Dunkelheit zu ihrer Hütte. Bis zu diesem einen Tag an dem ihr Leben enden wird, hat sie noch eine Chance auf Veränderung. Auf Verbesserung. 

Sie erreicht ihre Hütte und setzt sich an ihren Laptop. Sucht nach Wlan, findet es, und sucht nach Hilfekursen. 

Wie kommt man besser mit Menschen zurecht? Wie finde ich einen Beruf, der zu mir passt? Was mache ich, wenn ich nicht mehr weiter weiß im Leben? 

Sofort poppen einige Fenster auf. Anette schreibt sich Telefonnummern und Adressen auf. 

Mit zitternden Fingern wählt sie die erste und legt das Telefon an ihr Ohr. 

Vielleicht wird jetzt langsam alles besser, weil sie einen ersten Schritt macht. Sie hätte nicht gedacht, dass ein Abenteuer so klein anfangen kann. 

Aber Jahre später, als sie in ihrer Kunstgalerie sitzt und an diesen Tag zurückdenkt, sieht sie ihn als den Anfang ihres Abenteuers. Viele Höhen, viele Tiefen und am Ende ein Weg, der zu ihr passt; ein Weg, der ihr gefällt. Sie lächelt, als sie den letzten Pinselstrich für heute tut, um sich auf den Weg zu ihrer Psychologin zu machen. 

 

Lasse und Julia

 

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