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Tod eines Helden

Das Licht eines Feuerzeuges glomm inmitten von Nacht und Regen auf. Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel und schenkten neben dem trüben Flackern der Straßenlaternen ein wenig Licht in dieser trostlosen Nacht. 

Gebäude, die die Wolken zu streifen versuchten, ragten heruntergekommen und grau um ihn herum auf. Ein Versuch der Menschheit, Großes zu tun, ein Versuch, der wie alle anderen auch gescheitert war. 

Langsam führte er das Feuerzeug an seinen Mund, um sich eine letzte Zigarette anzuzünden. Als sie anfing zu glimmen, senkte er die Hand, um sein Feuerzeug achtlos auf den regennassen Asphalt fallen zu lassen. Schwarze, fettige Locken klebten ihm regennass in der Stirn und auf dem schlachtgezeichneten Gesicht. 

Während er in seinem dünnen Mantel durch die Straßen lief, holten ihn Gedanken ein, die er lange vergraben hatte. Gedanken an eine Zeit, in der er noch frei gewesen war und in der die Welt zu ihm aufgeschaut hatte. Seine Hände zitterten und er vergrub sie in den Manteltaschen. Was würden sie sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnten? Ihr einstiger Held, der nun, dem Zahn der Zeit und der Schlacht ausgeliefert, durch die Ruinen einer zerfallenen Stadt lief, begleitet von Nebelschwaden und dem Licht der Straßenlaternen, die aufflackerten um nur noch schwächer zu werden, einen Kampf führend gegen das Alter, einen Kampf, den sie nicht gewinnen konnten. 

Was würden sie sagen, wenn sie sehen könnten, wie er sein verunstaltetes Gesicht mit einer weiteren Zigarette erleuchtete? Würden sie sich abwenden? Leugnen, ihn einst verehrt zu haben? 

Aber es war doch einerlei, sich darüber Sorgen zu machen, hatte er sie doch im Stich gelassen. Sie waren tot, sie alle. Nur er lebte noch und wandelte seit Jahrzehnten durch diese trostlosen Straßen, eine Zigarette nach der anderen anzündend, bis ihr Lebenslicht erlosch und sie auf den Asphalt fielen um nie mehr beachtet zu werden. 

War es nicht ironisch, wie sie einen allesamt verehrten, bis man einen kleinen Fehler machte, um dann von allen verachtet zu werden? 

Er richtete sein verunstaltetes Gesicht gen Himmel. Die Regentropfen brannten auf seiner Haut, den spröden, alten Lippen, den tief in den Höhle liegenden Augen, den zahllosen Narben, den eingefallenen Wangenknochen, der alten Farbe, die sich über sein Gesicht zog. 

Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette und suchte zwischen den schwer am Himmel hängenden Wolken nach einer Antwort. 

Regen prasselte auf ihn herab, ferner Donner grollte über den Himmel und Blitze zuckten. Aber wo war der Sinn? Wo war der Jubel, der ihm sagte, dass er etwas Wert war, dass er etwas veränderte auf dieser Welt des Schmerzes und der Kälte? 

Einst hatten sie ihn verehrt. Hatten seinen Namen von weit her gerufen, wenn er sie in die Schlacht führte. 

Fast meinte er, ein Echo ihrer Stimmen zu hören. 

Aber das war früher gewesen. Früher, als er sie noch nicht enttäuscht hatte. Als er noch nicht diesen einen kleinen Fehler begangen hatte, der der Menschheit ein Ende setzen sollte. Ein gewispertes Wort bei Mitternacht, eine Versprechung im Auge des Sturms, ein Tropfen Blut verwaschen im Ozean der Lügen. 

Drei Dinge, die sein Leben gezeichnet und gebrochen hatten. Früher hatte er geweint. Gegen die Tränen, die aus seinen Augen geflossen waren, war der Regen, der nun herrschte, ein Tropfen Wasser auf heißem Wüstenboden. 

Er hatte doch nicht ahnen können, dass sein Leben etwas ins Rollen bringen würde, was die Welt in den Untergang treiben würde! War es denn fair, wenn alles nur von einer einzigen Person abhing? 

Er war nie ein guter Mensch gewesen. Er hatte gelogen, gestohlen, getötet, gefoltert… Es hätte so viele geben können, die die Menschheit retten könnten. Aber all die guten Menschen, all die Menschen, die immer die Wahrheit sagten, all diese hatten sich verkrochen. Hatten Angst gehabt, zu scheitern. Er war ein schlechter Mensch gewesen, ja. Aber bei den Göttern, er war der einzige gewesen! Der einzige, der sich für eine sterbende Welt erhoben und gekämpft hatte, derjenige, der den Menschen einen Grund gegeben hatte, zu hoffen. 

Konnte man ihn denn dafür verurteilen, es nicht geschafft zu haben, wenn er doch der einzige gewesen war, der es immerhin versucht hatte? 

Was machte einen Menschen denn zum Helden? Ihn hatten sie einen Helden genannt, obwohl er schlimme Dinge getan hatte. Andere hatten sie Monster genannt, einfach, weil sie im richtigen Moment die Chance nicht ergriffen hatten. 

Ihn hatten sie auch verleugnet, sobald er nicht mehr derjenige war, den sie in ihm gesehen hatten. 

Über Nacht war er von einem Helden zu einem Verlierer abgestiegen, und das alles nur, weil er menschlich war. Nein, es war nicht fair. Aber was war denn schon fair, gottverdammt? Wenn diese Welt fair wäre, dann würde er nicht den Schmerz hunderttausender Menschen ertragen müssen. 

Er war ein Held gewesen. Und wenngleich er noch am Leben war, so war er gestorben. Gestorben an den Wunden, menschlich zu sein, während andere einen Gott in einem sahen. All die Erwartungen, die einem plötzlich gestellt wurden, wenn man sich dazu aufraffte den einen Schritt zu tun, den niemand sonst zu tun wagte. Es machte einen doch nicht zu einem guten Menschen, wenn man das eine kleine Ding tat, für das alle anderen nicht den Mut hatten! 

Aber das war menschlich, oder nicht? Sobald sie eine Person hatten, von der sie glaubten, sie könne alle ihre Probleme lösen, warfen sie alle Schuld auf diese. 

Es war so schön einfach. Eine Person leiden lassen für das, was sie alle zusammen verursacht hatten. Sie hatten die Welt zerbrochen. Ja, er hatte auch dazu beigetragen. Aber wieso sollte er alleine sie retten, nur weil sie zu viel Angst dazu hatten? 

Er nahm einen weiteren Zug aus seiner Zigarette. Seine Hände zitterten stärker. Der Regen wurde stärker und prasselte wie Steine auf ihn nieder. Steinigten ihre Geister ihn für das, was er getan hatte, oder wurde er einfach nur langsam wahnsinnig? Fühlte es sich so an, zu sterben? 

Er spürte, wie seine Knie wieder schwach wurden. Wann hatte er das letzte Mal geweint? 

Er zwang sich, voranzugehen. Ein Schritt. Zwei Schritte. Drei- er brach zusammen. 

Seine Knie trafen mit einem gleißenden Schmerz auf dem Asphalt auf. Er krümmte sich zusammen, das Gesicht dem Boden zugewandt. Zum ersten Mal seit Jahren begannen die Tränen zu fließen und vermischten sich mit dem in Sturzbächen die Straßen hinabrennenden Regen. 

All die Erwartungen, zerbrochen. 

All die Kriege, verloren.

All die Menschen, enttäuscht. 

Jeder Versuch, etwas zu retten, der damit geendet hatte, dass die Welt ein bisschen mehr zusammengestürzt war und in Ruinen zurückgeblieben war. Ruinen, die ihn nun unter sich begruben. 

Seine Zigarette fiel auf den Asphalt, glomm ein letztes Mal auf und erlosch dann. Er sah zu, wie ihr Licht ihn verließ, wie alles ihn verlassen hatte. Die summenden Straßenlaternen, die versucht hatten, stark zu bleiben, gingen aus. 

Er konnte es ihnen nicht verübeln. Wieso leuchten, wenn die einzige Person, der sie Licht spendeten, ein gebrochener Held war? Ein Mann, der noch nicht gestorben, aber trotzdem tot war? 

Jegliche Kraft verließ seinen Körper. Machtlos lag er auf der nassen, dreckigen  Straße, die grauen Gebäude um sich. Ein Blitz erhellte sein verunstaltetes Antlitz. Er schloss die Augen in der Hoffnung, zu sterben. 

 

Julia

 

Bildquelle: https://cdnb.artstation.com/p/assets/images/images/020/634/471/large/j-c-park-joker2.jpg?1568577776

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Kommentare: 2
  • #1

    Angelika (Freitag, 14 April 2023 19:48)

    Wow.

  • #2

    Dorian (Samstag, 15 April 2023 10:32)

    Ebenfalls Wow. Sehr gute Geschichte!