Die schwarze Maske

Nebel waberte um mich herum herum. Der Wind wirbelte das Herbstlaub auf und wehte es über die menschenleeren Straßen. Die Bäume, welche ihre kahlen Äste dem von grauen Wolken verhangenen Himmel entgegenstreckten, ächzten trostlos und verloren in dem Sturm, der um mich herum tobte.

 

Und in mir tobte ein eigener Sturm.

 

Mein ganzer Leib zitterte. Ich wünschte, es käme nur von der schneidenden Kälte um mich herum. Nadelstiche wollten mein Herz durchbohren, immer und immer wieder.

 

Wie war es nur zu all dem gekommen?

 

Meine Brillengläser sind gesprungen und schmutzig, sodass ich den Gegenstand, den ich anstarre, nur verschwommen erkennen kann. Oder sind es Tränen, die meine Sicht verschleiern?

 

Der Wind tobt noch immer. Immer wieder hebt er dieselben Blätter an, bis er sie wieder freigibt und neue dazu bestimmt, mit sich zu ziehen. Auf welchem Weg, zu welchem Ziel?

 

Die Steine, auf denen ich knie, sind kalt. Kalt wie der Wind. Grau wie der Himmel und der Nebel. Von Rissen durchzogen wie mein Herz.

 

Die Maske vor meinen Füßen hingegen hebt sich als einziges von dem Grau ab. Schwarz liegt sie vor mir, zerbrochen und zersplittert. Die geschwungene Form der Nase, die kunstvoll mit Maserungen umrahmten Augenschlitze. All die Dinge, die ich so gut kenne. Die ich kenne wie mein eigenes Gesicht.

 

Wie oft habe ich ihren Anblick in den ungezählten Schlachten meines Lebens gesucht? Wie oft war es ihr Bild, das mir Mut gegeben hat? Wie oft hat diese Maske ihm ein Bild der Inspiration und Bewunderung verliehen?

 

Doch die Maske vor mir ist nur ein Schatten jener Maske, die ich kannte. Ich kannte diese Maske, als sie über einem Gesicht lag, und als Augen, dunkel wie die Wintersee, daraus strahlten und ihr Leben verliehen.

 

Als derjenige diese Maske trug, der uns alle zum Frieden trug.

 

Doch nun - was ist übrig von diesem Helden?

 

Ein zerstörtes Königreich?

 

Ein trauernder Mann?

 

Trostlose Tage des Spätherbstes, in denen eigentlich das Fest des Winters gefeiert werden sollte und aus jedem Haus die Lichter und das Lied der Hoffnung erschallen sollten?

 

Ist es eine zersplitterte Maske?

 

Aber es macht keinen Unterschied. Ich bin wohl noch der einzige, der sich an diesen Tagen festklammert. Ein armer, alter Narr.

 

Denn was sind Helden schon? Sie alle sterben. Und sie alle lassen doch etwas zurück, dass niemand außer ihnen wieder reparieren könnte.

 

Ein Königreich.

 

Einen Mann.

 

Eine Maske.

 

Wofür habe ich denn eigentlich gelebt, wenn nicht für diesen Helden? Was war der ganze Sinn und Zweck meines Daseins, wenn nicht diesem Mann zu folgen, den ich mehr als jeden anderen bewunderte? Ich bin der einzige, der sich noch an ihn erinnert, der sich noch so an ihn erinnert. Der in jeder Schlacht an seiner Seite stand. Der in der Menge jubelte, als der Reiter mit der Maske den Pfad zum König beschritt. Der mit ihm weinte, als alles verloren war. Der ihm Mut zusprach, wenn er selbst voller Zweifel war.

 

Ich war stolz. Stolz, jemanden wie ihn gekannt zu haben. Aber jetzt? Was übrig bleibt, ist nichts weiter als diese zersplitterte Maske, im Auge des Sturms.

 

Nicht einmal ein Echo dieser glorreichen Zeiten ertönt noch im Wind.

 

Wie lange will ich noch hier knien und trauern? Wie lange hätte er hier gekniet und getrauert? Ich kannte ihn besser als ich mich je glaubte gekannt zu haben. Natürlich hätte er sich bald wieder aufgerichtet und mit tränenüberströmten Gesicht einen Schlachtruf ausgestoßen, so wild und voller Schmerz, dass seine Feinde vor ihm erzittert wären. Und dann hätte er sich erneut in die Schlacht gestürzt, mit einer neuen Kraft und er wäre siegreich aus ihr hervorgegangen.

 

Aber ich bin nicht er. Ich bin es nie gewesen und ich weiß, dass ich es nie sein kann. Ich war nie derjenige, der aufstand. Ich bin nicht würdig, mich mit ihm zu vergleichen, denn ich habe nicht einmal Tränen für ihn, nur einen stillen, tiefen Schmerz, der mein Herz in sich begräbt. Und selbst wenn ich er wäre - um mich herum befindet sich kein Schlachtfeld. Keine Gegner. Nur der Sturm und die Herbstblätter und die seelenverlassenen Straßen.

 

Welchen Kampf kämpft man, wenn man keinen zu kämpfen hat? Wie kann man siegen, wenn man nichts mehr verlieren kann?

 

Er hätte es gewusst. Er wusste immer einen Ausweg, in jeder Situation. Aber die Maske, die hier vor mir liegt, der stetige und unmissverständliche Beweis, dass er nicht länger auf dieser Erde weilt, zeigt mir, dass es nun keinen Ausweg mehr gibt. Denn Auswege gibt es nicht, man schafft sie. Und wenn es niemanden mehr gibt, der sie schafft, so kann man sie nicht beschreiten.

 

Niemand in diesem todgeweihten Reich kann einen Ausweg sehen, am allerwenigsten wohl ich selbst. Wer in diesem Reich weiß überhaupt um den Helden, den ich betrauere? Wer wusste um ihn?

 

Er war der Held, den diese Menschen brauchten - den sie immer noch brauchen und immer brauchen werden. Warum hat der Tod nicht mich genommen? Auch wenn meine zerschundene Seele nicht einmal einen Bruchteil der seinen wert ist, so ist sie doch für diese Welt so viel weniger von Bedeutung als die seine.

 

Die Maske. Sie ist alles, was von ihm bleibt. Eine Maske, von der ich zu jeder einzelnen Narbe darauf eine Geschichte erzählen könnte. Eine Maske, die mir vertrauter ist als mein eigenes Gesicht.

 

Eine Geschichte voller Leid, Krieg und Verlust. Eine Geschichte voller Triumph, Sieg und Glorie. Eine Geschichte über den Helden, der unserem Reich den Frieden brachte.

 

Die Geschichte eines zerstörten Königreiches, eines trauernden Mannes und einer zersplitterten Maske.

 

Die Geschichte von Sturm, Nebel und umherwirbelndem Herbstlaub.

 

Die Geschichte des Reiters mit der schwarzen Maske.

 

Der Sturm flaut ab. Irgendwann muss selbst er dem Tag weichen. Die Sonne, die durch die kahlen Äste strahlt, scheint mir weiter entrückt und fern zu sein als sonst. Der Nebel, den ihre Strahlen durchbrechen, lichtet sich und zerstört die Triste des Morgens. Die Herbstblätter senken sich auf den Boden nieder und trudeln zusammen, tauchen die graue Straße in ein malerisches Bild aus rot und gold. Die Häuser jedoch sind noch immer dunkel. Dunkel, leer, verlassen.

 

Wie ich. Wie mein Herz. Wie die Maske. Wie dieses Königreich. Wie alles, was ich mit meinem Leben verbinde.

 

Und doch…

 

Ich hebe den Kopf. Am Himmel scheint trotz allem die Sonne. Trotz allem ist sie an diesem Morgen aufgegangen. Trotz allem hat sie den Nebel durchbrochen. Meine Hände umfassen die zersplitterte Maske vor meinen Knien. Mit ihr in beiden Händen erhebe ich mich, das Gesicht dem Himmel zugewandt.

 

Ich muss mich damit abfinden, dass der Held, der aus dieser Maske zu mir sprach, Geschichte ist.

 

Aber aus Geschichten entstehen erst die wahren Heldentaten.

 

Ich nehme die Maske fest in meine Hände und gehe einen Schritt.

 

Mache mich auf.

 

Mache mich auf den zu suchen, den ich erneut Held nennen kann.

 

Nicht ich kann den Frieden bringen - das war nie mein Schicksal.

 

Aber so wie ich dem ersten Helden beistand, kann ich es auch mit dem nächsten tun.

 

Nicht ich kann diesem Reich den Frieden bringen.

 

Aber ich kann demjenigen, der ihn bringen wird, seinen Weg ebnen.

 

Denn wenn es eines gab, das ich schon immer getan habe, selbst, als ich ihn noch nicht kannte, dann war es sicherlich immer eines:

 

Aufstehen, wenn alles verloren war.

 

Nicht das Schwert heben. Nicht zu einem Helden aufsteigen.

 

Nein. Das war es, von dem mein Leben geprägt war.

 

Aber das einzige, was ich immer konnte, auch wenn es so unendlich schwer und hart schien, auch, wenn alle Hoffnung verloren war, dann war es eben dies:

 

Mich wieder aufrichten. Zum Himmel blicken. Hoffnung schöpfen. Die Maske sehen und wissen, dass es immer einen geben wird, der meinem Leben einen Sinn und dieser Welt ihren Frieden bringt.

 

Denn das war mein ganzes Dasein: Nicht die Maske des Helden zu tragen, nicht sie zu behüten, zu beschützen oder zu bewahren. Nicht an ihrer Seite zu stehen.

 

Aber sie zu sehen und an sie und an ihren Ruhm zu glauben.

 

Julia 12.11.2021