Blutrotes Licht

Die Nacht war blendend hell.

 

Wenngleich der Mond am Himmel stand, so wurde er beinahe gänzlich von dem grellen Leuchten verdrängt, das die Nacht erfüllte. Die Sterne waren unter diesem Licht nicht zu sehen. Alles Leben hatte sich in seine Bauten zurückgezogen und wagte es nicht, nach draußen zu blicken, wo die Natur nicht ihrem gewohnten Zyklus nachging.

 

Das Licht ging von einer Burg aus. Eigentlich war das Gebilde nun eher eine Ruine, von schwarzem Ruß beschmiert und von schwarz verfaultem Efeu umrankt.

 

Einst war die Ruine wohl ein wahrhaftig prächtiges Gebäude gewesen. Nun erinnerte nichts mehr an ihre alte Glorie.

Nur ein einziger Turm stand noch da wie eh und je, so hoch in den Himmel ragend, dass er mit seiner Spitze beinahe die wenigen Wolken streifte, die dort träge herumhingen.

 

Dieser Turm war es, der das Licht entsendete.

 

Das Licht war nicht etwa gelb und weiß wie das der Sonne sondern rot - blutrot.

 

Ein Nachklang der Schlacht.

 

Nym Alrar stand schweigend vor dem Turm, ein Mensch inmitten von Trümmern.

 

Ruß, Asche, Schweiß und Blut bedeckten seinen Körper. Der kraftlose Arm hielt ein schartiges Schwert, das träge zu Boden hing.

 

Nym starrte zu dem blendenden Licht. Hoffte. Trauerte. Verfluchte sich.

 

Wie hatte alles so schrecklich schiefgehen können?

 

Vier Jahre der Planung.

 

Vier Monate des Versteckens.

 

Vier Wochen des Aushaltens.

 

Vier Tage der Schlacht.

 

Vier Kämpfer.

 

Ein Feind.

 

Zwei Überlebende.

 

Nyms Schwert entglitt seinen schweißgetränkten Händen. Zitternd sank der junge Mann zu Boden und vergrub seine blutbeschmierten Finger im Boden. Ein Ausdruck des Schmerzes machte sich auf seinem Gesicht breit. Er schluchzte. Schrie.

 

Alles umsonst. All seine Kameraden tot.

 

Warum nur? Alles war bis ins kleinste Detail geplant gewesen. Es hatte einfach nicht schief gehen können. Nein. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

 

Das Schloss war innerhalb von drei Nächten zerstört worden.

 

Doch was nützte das?

 

Der Turm stand noch.

 

Sie lebte noch.

 

Und rotes Licht erhellte die Nacht.

 

So viele Opfer. Nicht nur seine Freunde. Ihre Familien. Die Bewohner des Schlosses. Die ganze Welt, getaucht in das unnatürliche Licht.

 

Seine Schuld.

 

Noch immer konnte Nym es nicht verstehen. Wie hatte sie es vollbracht, alle Hoffnung mit einem Schlag zu zerstören? Ein Schlag, der seine Kameraden umgebracht, ihn vom Turm geworfen und das Licht über die Welt gesandt hatte.

 

Zitternd griff Nym nach seinem Schwert. Schwankend erhob er sich. Tränen und Schweiß hatten blasse Linien über sein rußverschmiertes Gesicht gezogen. Spuren, die all seine Erschöpfung markierten. Spuren, die ihn dazu brachten, nun wieder aufzustehen.

 

Seine Beine schmerzten unerträglich. Sein Arm konnte kaum mehr das Schwert heben. Rote Haarsträhnen verdeckten seine Sicht. Blutrotes Haar. Blutrotes Licht. Blutrote Wunden.

 

Blutrote Hoffnung.

 

Der Griff um sein Schwert verstärkte sich.

 

Einen Schritt vorwärts. Zum Turm hin. Ein Schritt auf einen Trümmerblock, einen Sprung hinunter. Einatmen. Ausatmen. Ruß und Asche in der Kehle. Verzweifeltes Husten. Sich Vorwärtskämpfen. Den Blick vor dem Licht senken. Weitergehen.

 

Letztendlich hatten ihn die vergeudeten Jahre zu dem hier geführt. Letztendlich gab es nur noch diesen einen Weg.

 

Er erreichte die Stufen. Wie, konnte er nicht sagen.

 

Die Treppen hinauf. Eine Stufe. Zwei Stufen. Hundert Stufen. Wo war der Unterschied? Jede einzelne unter ihnen war ein hoffnungslos zu erklimmender Berg. Jede von ihnen konnte erklommen werden.

 

Jeder Feind konnte besiegt werden.

 

Jeder Tod versprach ein Leben.

 

Jeder Hass gründete auf Taten.

 

Nyms Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Wirre Gespinste, halb Traum, durchwoben mit vergessen geglaubten Zeilen und einer Hoffnung, die nur in seinem Herzen existierte, während der Rest seines Körpers schon längst aufgegeben hatte.

 

Die Dunkelheit des Turmes schien schon nach den wenigen Minuten, in der die Welt so mit Licht erfüllt war, seltsam falsch zu sein.

 

Nym war sich sicher, dass das ihr Werk war. Doch seltsamerweise verspürte er bei dieser Erkenntnis weder den alten Hass noch das Feuer in seinem Inneren, das sie töten wollte.

 

Warum blieb er nicht stehen? Warum ließ er sich nicht fallen? Was konnte er denn schon ausrichten?

 

Doch er ging weiter. Nym wusste selbst nicht, warum.

 

Vor seinem geistigen Auge erschienen die Gesichter seiner Kameraden.

 

Realen. Die Hoffnungsvolle. Sarkastische. Die, die er gehasst hatte. Die, der er ohne zu zögern sein Leben anvertraut hätte.

 

Talor. Der Unsichere. Der Entschlossene. Der, den er geliebt hatte. Der, der sie möglicherweise verraten hatte.

 

Arion. Der Kluge. Der, der immer ein Zitat parat hatte, eine Lösung. Der, der ihm auf die Nerven gegangen war. Der, dessen Urteil er gefolgt war.

 

Sathia. Die, die er gemocht hatte. Die Pessimistische. Die, die immer einen Kampf provoziert hatte. Die, die ihn benutzt hatte.

 

Die, die seine Freunde gewesen waren. Die, die gestorben waren.

 

Nyms Mund war wie ausgetrocknet. Er konnte nicht mehr klar denken vor Schmerzen, die ihn sowohl innerlich als auch äußerlich zu verzehren drohten.

 

Und doch ging er immer weiter. Selbst wenn er sterben würde. Selbst wenn alles umsonst war. Selbst wenn die Welt ihn nicht erinnern würde.

 

Er hatte es versucht. Er hatte einen Traum. Und auch wenn sie nicht mehr lebten, so hatte er Kameraden, die an ihn glaubten und ihm den Mut gaben, so weit zu gehen, wie er musste, um das zu tun, was richtig war, selbst wenn es ihn nicht zum Sieg führte: Es würde ihn zur Gewissheit führen, das Richtige getan zu haben.

 

Julia, 4. 2. 2022