23. Dezember

Engelskind

 

Mit dem Rücken zur riesigen Himmelstür stehend, hielt ich das weiße Papier mit gesenktem Kopf in meinen Händen. Nach all den Jahren Ausbildung war ich endlich bereit, einen Auftrag vom obersten Schutzengel höchstpersönlich auszuführen. Doch solch ein Aufgabe hätte ich nie erwartet. Meine sonst kräftig gelben Augen, die man mit der Sonne vergleichen konnte, starrten nun mit einem schwachen Pastellgelb auf das Papier.

 

Wähle das nächste Engelskind auf Erden aus, das mit allen Gefühlen für Weihnachten strahlt.

 

Ich stieß die Luft aus. Reiß dich zusammen, so schwer kann das doch gar nicht sein. Ein Funken Hoffnung hellte sich in mir auf und langsam breitete ich meine riesigen Schwingen aus. Weiche Federn in allen möglichen Weiß- und Gelbtönen kitzelten meine schlanken Schultern. Mit einem kräftigen Sprung stieß ich mich von den Himmelsfliesen ab und ließ mich in einem Sturzflug herabfallen. Kalte Luft ummantelte mich, doch mir war nicht kalt.

Aus meinem Augenwinkel sah ich etwas schnell in meine Richtung sausen. Bevor ich reagieren und meinen Sturzflug stoppen konnte, prallte es mit voller Wucht in mich rein. Ich riss die Augen auf und erkannte einen weiteren Engel. Lilafarbene Flügel schlugen an meine gelben. Wir beide taumelten ineinanderverhakt weiter Richtung Oberfläche. Wir schrieen, doch konnten nichts tun, wir hatten jegliche Orientierung verloren und wurden von den starken Windböen gelenkt.

 

Ich öffnete langsam meine Lider und schaute mich langsam um. Als ich saß, erkannte ich den Schutzengel, der mir in den Weg geflogen war.

»Hallo. Hast du dich verletzt?« Blinzelnd suchte der andere Engel meine Stimme und kurz danach sah ich in wunderschöne, kräftig lilafarbene Augen.

»Hey. Tut mir echt total Leid, ich fliege noch nicht so lange. Ich habe mich nicht verletzt.« Nach einer Pause sagte sie: »Was hast du für einen Auftrag?«

Eigentlich war das vertraulich, doch ihre Augen waren ehrlich und würden mich nicht verraten. Als ich ihr meine Situation schilderte, sagte sie: »Wir können uns zusammentun, ich muss das neue Engelskind beschützen.«

 

So machten wir uns auf Weg. Wir waren abseits einer Stadt gelandet. Keine Menschenseele weit und breit. Doch ich konnte spüren, dass ich mein Ziel hier finden würde. Meine Partnerin trug ein schwarzes Kleid, ich war gehüllt in ein hellblaues.

Barfuß liefen wir weiter, wir konnten nicht riskieren, uns durch die Luft fortzubewegen und gesehen zu werden.

 

Die Stadt war groß und voll mit Menschen. Es war anstrengend, auf den Straßen zu laufen. Erstens hatten wir kein festes Schuhwerk an und zweitens mussten wir unsere Flügel eng an unseren Körper pressen. Zwar konnten die Menschen weder unsere Flügel, noch unsere wahren Augenfarben sehen, doch da wir nun ausgewachsen waren und unsere Flügel die größte Größe erreicht hatten, war es schwierig, sich in dem Meer von fremden Wesen normal zu verhalten.

Verschiedene Stimmen drangen chaotisch an unsere Ohren, wir wurden grob angerempelt und es war schwer, in dieser Welt die Orientierung zu behalten. Wir irrten weiter durch die Straßen. Es fing an zu schneien und schon bald waren wir aus der Innenstadt raus und liefen an Wohnhäusern vorbei. Ich lächelte, als ich sah, wie schön die Fenster der Häuser geschmückt waren. Lichterketten erhellten die Vorgärten und die Schneeflocken landeten weich auf den Büschen. 

Auf einer Fensterbank saß eine Engelstatue. Goldene Flügel, klein, nackt, lockiges kurzes Haar und pummelig saß er dort mit gefalteten Händchen. Neben mir schüttelte meine Partnerin den Kopf.

Seufzend sagte sie: „Schon komisch, wie sich die Menschen uns Schutzengel vorstellen. Ich meine, warum sollten wir keine Klamotten anhaben? Und goldene Flügel? Jetzt mal ehrlich…“

Lachend gingen wir weiter und wichen auf uns zukommenden Leuten aus.

 

Doch alle Leute, denen wir begegneten, kamen mir fremd und abweisend vor. Meine Gefühlswelt war kalt, obwohl ich ein Emotionsengel war. Die Launen und Gefühle der Menschen in unserer Umgebung beeinflussten mein Herz mehr, als ich erwartet hätte.

Enttäuscht schüttelte ich den Kopf, als meine Partnerin mich fragend anschaute. Also gingen wir den Weg zurück in die Stadt. Wir hatten nicht mehr viel Zeit, am Tag darauf war schon die heilige Nacht. Einfach ruhig bleiben, wir würden das schon schaffen!

 

Doch kaum waren wir wieder in dem riesigen Getummel, spürte ich abermals den Stress, der von allen Menschen ausging. Ich bemerkte hektische Bewegungen, Leute, die auf ihre Uhren blickten oder andere, die wild umherliefen. Als wir ein paar Schritte weitergingen, erfassten meine Augen einen Mann, der auf der Straße im Schnee saß und am ganzen Leib zitterte. Seine schmutzigen, kahlen Finger hielten einen alten Pappbecher, auf dem stand: Ich habe Hunger. Bitte helft mir! Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, doch die Trauer und Kälte übermantelten alle schönen Emotionen und ließen mich auf der Stelle erstarren. 

Plötzlich spürte ich einen winzigen Funken Wärme in mir und als ich mich besann, stand vor mir ein kleines Mädchen mit einem langen Mantel und einer grünen Mütze, die sich vor den Mann kniete und ihm eine Münze gab.

„Haben sie frohe Weihnachten und Gott segne sie!“, kam es von ihren jungen Lippen. 

 

Eine Träne lief meine Wange herunter. Ich war nicht traurig, ich war glücklich. Die Barmherzigkeit und Liebe, die von diesem Kind ausging, berührte mich zutiefst. Laila, meine Schutzengel-Partnerin, strich mir liebevoll über meinen Arm.

Besorgt fragte sie: „Hey, ist alles in Ordnung? Wir können an einen ruhigeren Ort gehen, wenn du eine Pause brauchst.“ Zögernd schüttelte ich meinen Kopf.

„Nein, mir geht es gut. Ich glaube, ich habe soeben das Engelskind gefunden.“ Ungläubig schaute sie mich an. 

„Bist du dir sicher? Ziehe keine voreiligen Schlüsse.“ Aber ich war mir noch nie in meinem Leben einer Sache so sicher gewesen. Bei diesem Kind fühlte ich kein winziges Bisschen negative oder bösartige Emotionen. Es hatte mein Herz tief getroffen. 

 

Ich schaute in die unschuldigen, kleinen Augen des Kindes. Ich hatte mich vor ihm in den Schnee gekniet und es lächelte mich an. Keine Angst, keine Wut, kein Neid, keine Lügen. Nein. Es war ehrlich, mutig, freundlich und liebevoll. Ich legte meine Hände auf seine Schultern und schloss die Augen. So, als hätte ich es schon mein Leben lang getan, fokussierte ich mich und sammelte all meine Kräfte. Als ich bereit dazu war, öffnete ich meine Lider. Meine strahlend, blendend gelben Augen schauten tief in die barmherzige Seele des auserwählten Kindes und ich ernannte es zum Engelskind.

 

Blaue Farbe breitete sich aus. Kleine Federstummeln ragten aus dem kleinen Rücken heraus und zerrissen den Mantel des Engelskindes. Weiche Federn in Blau und Weißtönen kamen zum Vorschein und ich sah in stolze, glückliche, ozeanblaue Augen. 

 

Laila strahlte mich an. Mein Auftrag endete hier, während ihrer nun begann. 

 

Erleichtert schlug ich mit den Flügeln auf und flog immer höher in Richtung Himmelsheimat. Ich hatte richtig gehandelt und erfolgreich das Menschenkind, das mit allen Gefühlen für die Wahrheit der Weihnacht strahlte, gefunden und in einen Wetterengel verwandelt. Das frohe Fest konnte kommen. 

 

Letta

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