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Krönung

Goldschillernder Stoff umhüllte Taria. In diesem Kleid fühlte sie sich wahrlich wie eine Königin. Das Herz der Prinzessin raste, nur mit Mühe konnte sie ihr Zittern vor der Menge verbergen, durch die sie in Richtung des Thrones schritt.

 

An diesem Tag stand viel mehr auf dem Spiel als nur ihre Zukunft als Herrscherin dieses Reiches. Heute ging es um ihr Leben, das in nur wenigen Minuten an einem seidenen Faden hängen würde. Doch sie bereute ihre Entscheidung nicht.

 

Sich auf ihren Atem konzentrierend schritt Taria weiter voran.

 

Unauffällig - zumindest hoffte sie, dass es unauffällig war - bewegte die Prinzessin ihre Finger, um den schmalen Goldring zu spüren, den Rea ihr geschenkt hatte. Diese sanfte Berührung gab Taria Kraft. Es kostete Mühe, sich nicht zu Vorhängen an den Seiten des Saales umzudrehen, hinter denen Rea sich verborgen hielt.

 

Am heutigen Tage riskierten die beiden Frauen zusammen ihr Leben.

 

 

Taria hatte die Stufen erreicht, die sie noch von dem Thron trennten. Ihr kleiner Bruder erwartete sie dort, gemeinsam mit ihrem Vater. Die männlichen Nachkommen ließen den weiblichen in der Linie Tarias immer den Vortritt. Nach dem Tod ihrer Mutter vor wenigen Tagen sollte Taria nun das Reich führen.

 

Eine Aufgabe, der die Neunzehnjährige ganz und gar nicht gewachsen war. Aber sie hatte Vertrauen, dass sie es schaffen würde. Mit Rea an ihrer Seite.

 

So lange die beiden Frauen den nächsten Sonnenaufgang noch erleben würden.

 

Für Taria fühlten sich die langen Minuten der zeremoniellen Krönung wie Sekunden an. Sie brauchte mehr Zeit. Ihr Leben hing von ihrer Rede ab. Reas Leben hing davon ab.

 

Taria war nicht bereit.

 

Ihr Vater legte ihr den goldenen Reif auf das kunstvoll hochgeflochtene braune Haar. Er sprach die Worte, die ihr die Macht verliehen. Taria drehte sich zu der Menge.

 

Andächtig sahen zahlreiche Bewohner des Reiches, das sie nun regierte, zu ihr auf. Warteten auf ihre Worte.

 

Taria spürte den Blick ihres Vaters im Rücken. Er erwartete, dass sie die Worte sprach, die er ihr vorgegeben hatte zu sprechen, die sie immer wieder hatte einstudieren müssen.

 

Es war Zeit, ihn und alle anderen, die je an sie geglaubt hatten, zu enttäuschen.

 

Sie sollte sagen: Ich bin dankbar, dass ihr alle gekommen seid.

 

»Ich, Taria Shailan Alakiran, muss euch etwas verkünden.«

 

Die entsetzten Blicke ihres Vaters brannten in Tarias Rücken.

 

Als eure neue Königin will ich euch versichern, dass ich euch ebenso regieren werde, wie meine Mutter vor mir.

 

»Es wird eine Neuigkeit sein, die euch alle schockieren wird.«

 

Murmeln im Saal. Verwirrung, die sich breit machte.

 

Ich werde dieses Reich stark machen und ich werde euch eine würdige Erbin schenken…

 

»Ich werde keinen Mann heiraten. Ich werde nicht in der Lage sein, euch selbst eine Erbin zu zeugen.«

 

Ihr Vater trat vor. Die Menge wurde laut.

 

Ich werde euch mit Recht und Stärke regieren und es nicht zulassen, dass sich irgendetwas an unserer hart erkämpften Politik ändert…

 

»Denn mein Herz gehört einer Frau. Ihr Name ist Rea und sie ist in diesem Moment unter euch.«

 

Tarias Herz raste. Rea kam unter ihrem Vorhang hervor. Sie sah wunderschön aus, mit dem offenen schwarzen Haar und dem blutroten Kleid. Die Rufe der Menge schienen an ihr abzuprallen, als sie zu Taria schritt.

 

In dem Moment, als die Frauen ihre Hände verschränkten, erwärmte sich Tarias Herz und sie hatte mit einem Mal das Gefühl, dass sie es schaffen konnten. Gemeinsam.

 

Und ich schwöre, dass ich dieses Reich beschützen, bewahren und mit Gerechtigkeit regieren werde.

 

»Wir werden heiraten«, sprach Taria, ihre Stimme hallte über die unruhige Menge hinweg, »und ich verfüge hiermit, dass jeder und jede und überhaupt alle in diesem Reich lieben und heiraten dürfen, wen sie wollen.«

 

Rea sah Taria aus ihren wunderschönen, dunklen Augen an und trat einen Schritt auf die neu gekrönte Königin zu.

 

Vor den Augen der tosenden, verwirrten und wütenden Menge küssten sich Taria und Rea, die Königinnen des Reiches.

 

Tarias Vater tobte.

 

Doch dann wurde er ruhig. Er schaute die beiden Königinnen einfach nur an, wie sie umschlungen dastanden und dem gesamten Reich ihre Liebe bewiesen, eine Liebe, die sie umbringen konnte. Und dennoch standen sie hier. Traten ein für sich selbst.

 

Tränen stiegen in seine Augen.

 

Als Taria und Rea sich lösten, nahm ihr Vater seine Tochter, die Königin, in die Arme.

 

Tränen flossen. Die Menge verstummte.

 

 

Eine Woche später fand die Hochzeit zwischen Taria und Rea statt - die erste Hochzeit zwischen zwei Frauen, die das Reich je gesehen hatte. Doch noch zahlreiche würden ihr folgen.

 

 Julia

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Angelika (Samstag, 10 September 2022 10:08)

    Schöne Geschichte, gut geschrieben!