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Sein Wecker klingelte. Zeit um aufzustehen. Seine Augen schlugen auf und das Kribbeln war wieder da. Er richtete sich in seinen Bett auf und schlug die hellblaue Bettdecke zurück. Müde rieb er sich seine haselnussbraunen Augen und atmete tief durch. Alles kam ihm so unwirklich vor, als er sich anzog und die Zähne putzte. Warum hatten seine Eltern nochmal darauf bestanden, dass er wieder zu einer Kursfahrt mitgehen sollte? Hatte er sie nicht nach allen bisherigen Fahrten angefleht, ihn für die nächste krank zu melden? Ihre Antwort auf sein Flehen war wie immer gewesen. Sie hatten gemeint, es würde ihm doch mal etwas gut tun, aus seinem Zimmer zu kommen und ein Stückchen der Welt zu sehen. Und das würde er eigentlich gerne, aber wenn dann sollte er solche Fahrten genießen können, oder? Nun es war so wie es ist und er hatte schließlich ganz allein damit klar zu kommen. Wenigstens fuhr dieses mal nicht nur sein Freund, sondern auch sein Lieblingslehrer mit. Vielleicht würde es ja diesmal so schön werden, wie seine Eltern es prophezeiten.
Er spuckte die Zahnpasta aus und raffte sich innerlich zusammen.
„Es wird schon alles schiefgehen“, murmelte er leise, während er sein Gesicht im Spiegel betrachtete. War er der, den der Spiegel zeigte oder war es nur ein Spiegelbild eines viel zu alten Körpers? Konnte er nicht wieder jung sein? Jung genug, um vergessen zu können? Nein, natürlich konnte er nicht. Hauptsache, er lebte noch.
Aus der Küche hörte er schon laute fröhliche Stimmen seiner viel zu großen Familie. Für das Frühstück blieben ihm noch 15 Minuten. 15 Minuten, in denen er sich unterhalten musste, in denen er sozial sein musste.
„Ich will das letzte Croissant!“, „Nein ich.“.
„Emma, Chantal hört auf zu streiten, ihr teilt euch das Croissant. Ach hallo Alex, auch endlich anwesend?“.
„Ja, Ja Mama!“.
„Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich sehe dir doch an, dass dich etwas bedrückt. Sag jetzt nicht, es ist wieder die Kursfahrt? - … - Mensch, Alex, du weißt genau was ich davon halte!“
„Ja, Mama“, antwortete er kraftlos und senkte seinen Blick. Schon lange waren ihm die Diskussionen zu anstrengend geworden. Seitdem fühlte er sich wie ein Roboter, der alles tat, dass seine Eltern verlangten, der immer das Problem bei sich suchte anstatt bei anderen und der bei jeder Kleinigkeit nachgab.
Er schnappte sich ein Brötchen aus der Papiertüte und entschied sich für die Blaubeermarmelade, die er lustlos mit dem Messer aufs Brötchen schmierte. Der farbenfroh gedeckte Tisch passte mal wieder gar nicht zu seiner Gefühlslage. Der Blumenstrauß in der Mitte des Tisches und die bunten Servierten erhielten den Anschein, dass jeder in diesen Haushalt fröhlich sei und sich auf den Tag freute. Wahrscheinlich war das sogar bei vier Mitgliedern dieser Familie der Fall, wenn man davon absah, dass sich seine kleinen Schwestern immer noch stritten. Alex biss von seinem Brötchen ab. Es schmeckte fahl. In seinen Mund wurden die Brocken geschmackslos und als er den letzten Bissen des Brötchens nahm, war er weitaus unglücklicher als vor dem Frühstück. Mechanisch stand er auf und stellte seinen Teller auf die Küchenablage. Sein weiterer Weg führte ihn über den Flur zurück in sein kahles Zimmer. Kein Poster hing an den Wänden, wie bei anderen Jugendlichen in seinen Alter. Alex' Zimmer war ohne jegliche Persönlichkeit, deshalb passte es auch so gut zu ihm, denn er hatte keine Persönlichkeit. Ein letztes Mal für die nächsten zwei Wochen schaute er sich in dem Zimmer um und nahm den vollgepackten knallroten Koffer seiner Mutter, der so gar nicht zu ihm passte, am Griff und schnappte sich sein schwarzen Hoodie von der Kleiderstange.
Er zog die Kapuze des Hoodies tief ins Gesicht. Zum einen tat er das, weil ein kalter Wind durch die Straßen wehte, zum anderen, da er nicht gesehen werden wollte. Zu der Kälte kam ein stetiges graues Nieseln, das auf Dauer jede Kleidung durchdrang und sich dann feucht auf der Haut niederließ. Die Autos, die vor ihm auf der Straße kreuzten waren nur Schatten im Nebel, den der Nieselregen hinaufbeschwor. Kurz gesagt, es war ein Scheißwetter. Seiner Meinung nach war es aber ein sehr passendes Wetter. Es spiegelte perfekt seine Stimmung wieder.
Glücklicherweise hatte die Bushaltestelle ein Dach. Er setzte sich wie immer auf den Platz in der Ecke zwischen dem Ticketautomaten und der mit Graffiti beschmierten Glaswand. Sein Bus sollte nach Fahrplan erst in einer Viertelstunde eintreffen.
Er ging immer 15 Minuten vorher aus dem Haus. Das war sein Vorwand seit Jahren, um nicht länger als die obligatorische Zeit, die er benötigte, um ein Brötchen zu verspeisen, bei seiner Familie zu verbringen. Außerdem bekam er dadurch immer einen Sitzplatz in der Bushaltestelle, falls der Bus es wagte, das ein oder andere mal zu spät zu kommen. Das war im viel zu überfüllten Straßenverkehr dieser Stadt nicht selten. Die Minuten auf der Anzeigetafel der Haltestelle, die anzeigten, wann sein Bus ankam, rannen langsam hinunter. Genauso wie die Tropfen an der Glaswand der Bushaltestelle. Handy raus und Musik an. Die morgendliche Routine wurde jeden Tag genaustens befolgt. Diesmal wählte er sich seine Playlist mit dem Titel „Regen“ aus. Er hatte zu allen Stimmungslagen und Wetterlagen eigene Playlists zusammengestellt.
Die Bushaltestelle begann, sich mit Schülern zu füllen. Regenschirme tummelten sich und erschufen ein farbenfrohes Dach, das dem stetigen Nieseln trotzte. Als der Bus ankam stellte er seine Musik lauter, damit er die Lautstärke im Bus nicht erleben musste und setzte sich ganz hinten in die Ecke.
Seine Schule war ein graues Gebäude, mitten im Stadtzentrum. Die Kunstfachschaft hatte einmal versucht, mehr Farbe in das Antlitz des Plattenbaus zu bringen. In dem Dreck der Stadt hatten sich die groß angelegten Wandbilder allerdings in ein verwaschenes verdrecktes Wirrwarr an verblassten Farben verwandelt. Dort vor einem dieser ehemaligen Kunstwerke stand ein Bus. Es war ein Doppeldecker, der in dem ganzen grau des Tages geradezu mit seiner gelben Farbe skurril leuchtete.
Ohne es zu wollen hoben sich seine Mundwinkel leicht an, vielleicht konnte diese Kursfahrt doch etwas werden.
Dieses Gefühl zerschmetterten die Personen, die vor dem Bus mit ihren gefüllten Koffern, Taschen und Rucksäcken standen. Schülerinnen und Schüler, die sich im Gegensatz zu ihm wahrscheinlich auf diese Kursfahrt freuten.
Nehmen wir Abstand zu Alex und schauen uns die Situation von Außen an, werden wir feststellen, dass der Tag, wenn nicht das schönste, ein doch annehmbares Wetter hatte und dass die Personen vor dem tatsächlich knallgelben Reisebus Schüler und Schülerinnen waren, die nur so normal waren, wie auch andere Schüler in diesem Alter. Während einige auf ihren Handys in Instagram, TikTok oder Snapchat scrollten, unterhielten sich andere. Wahrscheinlich ist es, dass sich diese Schüler über die anstehende Kursfahrt unterhielten. Eine Fahrt, organisiert, dass sich die Oberstufe kennenlernt. Eine Fahrt nach Italien an einen idyllischen See in einer Kleinstadt.
Lasse
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