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Stimmengewirr

                                                                                                                      Lesezeit: 9 Minuten;

 

Triggerwarnung: Amokanschläge, Mord, Halluzinationen, Gewalt, Polizei, Suizid

Die Pistole in meiner Hand zitterte, als ich durch die menschenleere Schule lief. Alle hatten sich verschanzt, als mich dieser Lehrer gesehen hatte.
,,Lauf weiter!", feuerten sie mich an, ,,Du wirst sie alle kriegen!". Ich folge den Stimmen, als hätte es mir eine höhere Macht befohlen, denn genau das tat sie gerade.

Es war kein Problem, auszumachen, in welchen der Säle Menschen waren - schließlich hatte ich schon genug Probedurchläufe erlebt - die wahre Schwierigkeit machte die Polizei aus, die sicherlich schon gerufen wurde. Sie dürfen mich auf keinen Fall erwischen, wer soll sonst dieses Werk vollenden?

,,Das ist eine gute Einstellung! Das Leben aller hier ist eine reine Lüge. Diese Menschen - sie gehen hier nicht hin, um etwas zu lernen. Sie wollen dich töten. Alle!!!" Die Stimme schreit fast. 

Früher war ich mitgelaufen, in dieser Bewegung. Jetzt schienen sich alle gegen mich verschworen zu haben. Ich war nirgends sicher, denn jeder war mein Feind. Der Briefträger, der mir seit über 10 Jahren die Päckchen zustellte, hatte sicherlich Sprengstoff zwischen die Briefe gestreut, die Bäckerin wollte bestimmt auch meinen Tod, also aß ich keine Brötchen mehr, denn sie würden alle vergiftet sein. Da war ich mir sicher.

Heute Morgen hatte ich zum ersten mal seit mehreren Monaten das Haus verlassen, war zu Fuß zur Schule geschlichen, denn das Auto war zu angreifbar, zu leicht hätte jemand eine Bombe oder ähnliches darin verstecken können.

Meine Pistole umschloss ich fest mit den Fingern, hier draußen wollte mich jeder umbringen. Das war meine feste Überzeugung. Warum sonst hätte mich die Stimme so verzweifelt davon zu überzeugen versucht?!

Hinter der Tür hörte ich das Wimmern eines Kindes. ,,Gut so! Sollen sie sich fürchten!! Sie sind selbst schuld. Geh den Gang entlang, hinten sind keine Fenster. Niemand wird dich da sehen." Ich folgte den Befehlen, denn dieser Stimme konnte ich vertrauen. 

Anfangs hatte ich sie merkwürdig gefunden, sie hatte mich alles und jeden hinterfragen und immer alles doppelt absichern lassen. Jetzt hatte ich mich an sie gewöhnt, fühlte mich sicher bei ihr, immerhin war sie meine ständige Begleitung, mein Zuhause und - am wichtigsten - meine einzige Verbündete. 

Ich zuckte leicht zusammen, als eine Durchsage erklang. Ein verängstigt klingender Mann befahl durch das Mikrofon, die Türen zu schließen und sich ruhig zu halten, das Übliche eben. Am letzten Saal angekommen trat ich die Tür mit dem Fuß auf, beide Hände an der Waffe, doch der Raum war leer. ,,Nicht aufgeben!! Wenn du sie nicht tötest, werden sie es dir antun. Die sind alle gegen dich!!!" Mit neuem Tatendrang versehen stiefelte ich um die Ecke. 

Ein Kind kreischte auf, begann den Gang hinab zu rennen. Ich richtete mein Schießeisen auf dessen Hinterkopf. ,,Jawohl!! Tu es!!" Ich tat was mir befohlen wurde. 

Der Schuss hallte in den Wänden wider, vor mir lag ein regloser Körper.

,,Sehr gut. Ich wusste, du wirst mich nicht im Stich lassen!! Denk dran: Sie alle wollen dich tot sehen."

Von dem Knall erschreckt schrie jemand auf. Es klang gedämpft, als hätte jemand der Person eine Jacke vor den Mund gedrückt. ,,Sie sind alle da drinnen. Geh und hol sie dir!!"

Okay. Mir wurde befohlen, ich gehorchte. 

Die Tür war verschlossen, ich rüttelte an der Klinge, doch sie ließ sich nicht öffnen. Ich seufzte, eigentlich wollte ich meine Patronen für die Körper aufheben und nicht mit solch simplen Dingen wie das Öffnen von Türen verschwenden... 

,,Jetzt mach doch!! Du verlierst Zeit! Gleich sind die Bullen da!!" Stimmt. Die gab es ja auch noch. Mist. Ohne zu Zögern hielt ich die Pistole an den Schlüsselspalt, es knallte erneut und die Tür schwang auf. 

Ich schaute in einen Saal voller Menschen - viele Kinder und eine Lehrerin - alle blickten mich an, Augen voller Furcht. Einige weinten stumm, aber niemand bewegte sich. Nur die Lehrerin schob sich langsam vor die Schüler und Schülerinnen. 

Gesichter konnte ich keine erkennen. Besser so. ,,Erschieß sie!!"

Ein Kugelregen ergoss sich über die Gruppe, überall war Blut. Die Schreie waren augenblicklich verstummt, mein Gefühl ließ mich wissen, dass die meisten Verletzungen nicht mit dem Leben vereinbart werden konnten, wenn die Personen nicht sogar direkt starben.

Die Lehrerin war zusammengebrochen, sie hatte ich als erste getroffen. Hinter ihr ein großer Haufen unbewegliche Körper. 

,,Gut ausgeführt. Sie sind selbst schuld, wenn sie dir auflauern!"

Direkt spürte ich wieder diese Wut in mir. Wie ich diese Menschen hasste! Sie hatten mir meine Freiheit genommen, mir aufgelauert und hätten mich längst kaltblütig ermordet, hätte mich die Stimme nicht davor bewahrt. Ironisch, dass ich ihr mehr vertraute, als den Leuten, die ich einst liebte.

,,Pff, das war doch nur ein Ablenkungsmanöver!! Sie hätten dich schon noch vergiftet, das hättest du gemerkt. Sei froh, dass du nun unter meiner Befehlsmacht stehst!" Tatsächlich war ich das.

Ich lief weiter zum nächsten Saal, leer. Ebenso die anderen Räume im Flur. Na schön. Dann würde ich jetzt den Rest durchsuchen. Gerade bog ich um die Ecke, als mir jemand den Weg versperrte. Ein Polizist. Fuck. ,,Erschieß ihn!! Er hat kein Recht, dich mitzunehmen!! Sie werden dich töten, wenn du das jetzt verhaust!!!" 

Also schoss ich. Ich traf ihn auch, leider hatte ich einen wichtigen Punkt übersehen: Die Weste, die er trug, war schusssicher. Die nächste Patrone ging daneben. Jetzt musste ich langsam mal treffen, mir gingen die Kugeln aus. Erneut richtete ich die Pistole auf ihn, als mich plötzlich jemand von hinten umtrat und auf den Boden zwang.

Die Waffe wurde weggetreten, ich fixiert. Immer wieder versuchte ich mich zu wehren, wollte der Stimme nachgeben, die mir klare Befehle sendete, aber ich war nicht stark genug, mich gegen die Feinde zu verteidigen. Ich schlug um mich, solange, bis mich ein Schlag durchzuckte und mir schwarz vor Augen wurde.

 

Benommen saß ich auf dem Rücksitz des Autos, vor der geöffneten Tür standen mehrere Polizisten.

,,Nun erzählen Sie doch endlich, von wem bekamen sie die Befehle?" Der Beamte sah mich eindringlich an. ,,Ist es, als würden Sie eine Stimme in ihren Gedanken hören?"

Er wusste es? Vielleicht war er wie ich, abgegrenzt und von allen verfolgt?!

,,Ja, in der Tat, das tue ich! Sie hören sie also auch?!"

,,Berichten Sie mir davon. Was sagt diese Stimme so?"

,,Sie hat mich vor den anderen gewarnt. Sie wissen schon." Ich beuge mich näher an den Typen heran. ,,Vor den Feinden. Und sie gibt mir Befehle. Ohne sie wäre ich schon längst tot!" 

Nachdenklich nickend schrieb der Mann etwas auf, ging ein paar Schritte zurück. 

,,Jetzt!! Du kannst noch fliehen!!" Aber wie sollte ich das anstellen? ,,Das Messer in deiner Tasche!!" Stimmt ja!! Aber ich musste auf den richtigen Moment warten. 

Einige Minuten später standen die Polizisten etwas abseits, nur der Mann war in meiner Nähe. Die Handschellen hatten sie deutlich zu locker gemacht, ich konnte einfach so hindurchschlüpfen.

Unauffällig tastete ich meine Jackentaschen ab, das Messer war noch da.
,,Töte ihn. Und dann renn, ich habe eine fantastische Idee!!" Also sprang ich nach vorne, die Fesseln fielen hinter mir auf den Rücksitz und innerhalb von Sekunden lag der Polizist am Boden. Ich rannte los, sprintete über den Parkplatz. Hinter mir ertönten Schreie, die Behörden folgten mir, aber ich war schneller. 

,,Perfekt. Renn zur Feuerleiter. Und dann rauf aufs Dach!!" Aufs Dach?? Das ist eine super Idee! 

Die Sprossen knarzten unter meinem Gewicht als ich hinaufstieg, doch die Stimme motivierte mich, feuerte mich an, bis ich schließlich auf dem Dach stand. Was soll ich jetzt tun?

,,Spring!!" Warum sollte ich? Das würde ich nicht überleben. Will mich die Stimme nicht eigentlich retten??

,,Denk nicht so viel. Wann habe ich dich jemals im Stich gelassen?? Du wirst es nicht schaffen, alle zu töten. Willst du wirklich ein solches Leben weiterführen?? Voller Angst??"

Nein, das wollte ich nicht. Sie hatte wieder einmal Recht. Ich lief zum Rand des Daches, unter mir ging es weit nach unten. Sehr weit. 

,,Einen Schritt vorwärts. Jetzt mach! Spring!" Ich folgte den Befehlen. Einen Schritt vorwärts, einen Schritt in die Leere. Kurz fühlte ich mich schwerelos. Was ein tolles Gefühl.

Die Stimme lachte, als hätte sie ihre Aufgabe vollendet, als hätte sie mich mit Absicht gequält. Denn genau das hatte sie. Und jetzt war es zu spät. Ich war ihren Befehlen gefolgt. Bis zum bitteren Ende. Ich hoffe, sie ist stolz auf mich, diese Stimme.

 

 

                                                          Anonym


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