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Durch den Spiegel

Ein mattes Blinzeln, mehr nicht. Vollkommen versteinert starrte ich mein Spiegelbild an. Ich stand so dicht vor der silbrigen Scheibe, dass meine Nase das kalte Glas berührte. Eisig strömte die davon ausgehende Kälte in mich ein. Ohne auch nur den Versuch des Zurückziehens, lies ich es zu. Nicht einmal der Drang war mehr in mir vorhanden, mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Eine gespenstige Ruhe hatte sich in mir ausgebreitet. Urplötzlich war die Anspannung des Lebens von mir abgefallen. Wie aus weiter Ferne blickte ich auf meinen grauen Körper, der einsam vor dem Spiegel verharrte. Mit den Fingerkuppen fuhr ich meine nackte Schulter entlang. Der Kontakt war lediglich als ein winziges Kribbeln zu verspüren.

 

Um mich herum tobte und rang die Welt, doch ich war absolut isoliert. Nicht, weil ich mich tatsächlich vor all dem Schlechten hätte schützen können, sondern viel eher, da mein Körper nur noch als leere Hülle bestand. Mein Geist jedoch wandelte bereits auf anderen Pfaden.

 

Erneut beobachtete ich, wie mein Lid sich senkte und wieder hob. Die markanten, schwarzen Wimpern schwangen leicht, als ein Luftzug sie streifte. Die Pupille starr, ein unbedeutender Punkt in der Sphäre.

 

Ein Herzschlag, ein Augenzwinkern. Ginge ich, würde niemand nach mir rufen, bliebe ich, drehte sich niemand nach mir um. Unwesentlich, trist, grau. Sogar mein Haar war grau geworden und hatte seinen Glanz verloren. Anfangs brannte noch das Feuer der Hoffnung in mir. Hoffnung, die Welt als einen besseren Ort zurücklassen zu können, als ich sie betreten hatte. Doch wer konnte schon solch große Dinge bewirken? Ich allein? Als mickrige Ameise zwischen all jenen in die Höhe des Windes ragenden Bäumen?

 

Blau. Sehr blau war meine Iris. Zu blau. Es war nicht dieses angenehm dunkle Ozeanblau, in dem die Menschen sich verlieren, versinken, eingesogen werden, so wie man es aus den Büchern kennt. Vielmehr ein stechendes Eismeer, das bedrohlich zu mir heraus zu schwappen drohte. Abscheu, ich verspürte tiefste Abscheu auf diese Farbe, auf meinen Körper, auf mich selbst.

 

Wie von einer fremden Macht gesteuert, schlossen sich meine Augen erneut. All das hier wollte ich nicht mehr sehen, die Umwelt vollkommen ausblenden. Ohne es zu realisieren, wich ich ein Stück vor dem großen Wandspiegel zurück. Statt meines Nasenrückens legte sich nun meine Hand auf die kalte Oberfläche.

 

Hör auf damit, du hinterlässt Spuren, hörte ich die Anderen sagen. Hallende Stimmen in meinem Ohr, die mir befahlen, unsichtbar zu sein. Ohne sie hätte sich mein verschlossenes Wesen vielleicht entfalten können, wie ein bunter Schmetterling an einem Sommermorgen. Doch so… Blieb meine Seele verschlossen, unentdeckt. Nie machte jemand Anstalten, sie öffnen zu wollen. Nur ein minimaler Schnitt wäre nötig gewesen, um bis zu meinem Herzen vorzudringen. Einst pochte es stark und kräftig in meiner mageren Brust, schickte scharlachrotes Blut durch meinen Körper. Heute aber, ist es nur noch als ein schwaches Flimmern vorhanden. Wäre ein Arzt hier anwesend, würde er mir sicherlich einen Stromschlag verpassen, um die vollständige Funktion wieder in Gang zu setzen, doch das würde nur zu einem endgültigen Stillstand führen. Es war zu spät, viel zu spät, das Ruder noch herumzureißen und auf die andere, die bessere Seite des Lebens zu gelangen.

 

Als sich der Nebel lichtet und sich meine Augen zu öffnen begannen, fühlte ich auf ein Mal ein heißes Stechen an meiner Wange. Ich versuchte danach zu greifen, doch ich fand an dieser Stelle nichts als pures Wasser. Langsam rann die Träne mein eingefallenes Gesicht hinab, bahnte sich ihren Weg am Rande meines Lids. Verharrend schaute ich auf. Meine Blicke trafen sich mit denen meines Spiegelbildes. Kahl und trauervoll kauerte ich da, wie ein Häufchen Erde, das selbst von den Würmern vergessen wurde.

 

Gleißend weiß blitzte der Tropfen auf, der noch immer dem Grunde zu driftet. Er hinterließ eine wärmende, flammende Spur auf meiner Haut. Dort, wo er entlang sickerte, färbte sich mein Körper von eintönig grau zu fließend rosig. Ohne mich zu rühren, folgte mein Blick dem Mal. Träge huschende Pupillen, die langsam erwachten.

 

Keine Spuren hinterlassen, murmelte ich. Das ist falsch, dazu bist du nicht bestimmt.

 

Mit wummerndem Schädel versuchte ich mich dieser heißen Glut zu entziehen. Mein Herz schlug kräftiger. Es klopfte regelrecht gegen meine Brust, als bäte es darum, endlich herausgelassen zu werden.

 

Klirrend krachte mein Arm gegen den Spiegel. Es war nicht mehr auszuhalten, dieses Gefühl der Zerrissenheit. Gerade noch war es einer tonlosen Leere gewichen, doch jetzt auf einmal und ohne Vorwarnung zurückgekehrt. Weitaus kräftiger, als ich es gewohnt war. Ich fühlte mich wie ein wilder Vogel, der jahrelang in einem Käfig gehalten ward und nun… Nun war endlich die Türe für ihn eröffnet worden, aber er besaß keine Flügel, mit denen er hätte davonfliegen können.

 

Zum wiederholten Male an diesem Tag, verließ mein Geist den Körper, blickt als parteiloser Außenstehender auf das Geschehen. Diesmal war es anders als zuvor. Etwas erkannte der Geist, wozu der Körper nicht befähigt war. Eine neue Perspektive, eine andere Sicht.

 

Rauschendes, wallendes Blut machte sich in mir breit. Die überversorgten Gliedmaßen zuckten unkontrolliert und schlugen um sich, als gäbe es einen unsichtbaren Feind zu bekämpfen. Meine Augen, weit aufgerissen, nahmen alles Licht auf, das auch nur irgend zu erreichen war. Sie suchten in den höchsten Höhen und tiefsten Tälern, drangen gar in die Sonne ein, nur um zu erkennen, dass in deren Mitte ebenfalls diese erdrückende Finsternis herrschte. So paradox es klingen mochte, der äußere Schein entsprach nicht dem Inneren.

 

Jedoch nicht bei mir. Überall grau. Graues und eisiges Stechen. Ich musste weg, musste die andere Seite finden. Mein Körper bäumte sich auf und warf sich gegen den Spiegel. Einmal, zweimal. Krachendes Splittern. Scherben bohrten sich in meine Wunden und rissen sie wieder auf. Rotes Blut überflutete meine Sicht. Ein dichter Nebel hüllte sich um mich, betäubte meine Sinne.

 

Da war es, das helle, gleißende Licht, nach dem ich immer gesucht hatte. Meine Arme streckten sich nach ihm aus. Plötzlich war ich federleicht. Ohne auch nur die geringste Kraftaufwendung hoben sich meine Füße vom Boden ab. Gleitend ließ ich endlich alles hinter mir, schwebte hinfort. Hinfort durch den Spiegel, auf die andere Seite.

 

 Jale

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