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Spiegel

Mit einem verzweifelten Aufschrei trifft meine Faust den Spiegel. Risse ziehen sich durch die eisglatte Oberfläche, dann zerspringt mein Ebenbild in tausende Scherben. Langsam senke ich meine zitternde Hand. Blut rinnt an ihr hinab, tropft langsam auf den Boden. 

Schwer atmend stehe ich da und wage es nicht, meinen Blick zu heben, mir einzugestehen, was ich getan habe. Ich kann nicht mehr weiterleben mit dem Wissen, dass mich jeden Tag die Blicke und Worte erwarten, die mich hässlich nennen. Ich sei zu dick. Meine Kleidung würde mir nicht stehen. Ich sei widerlich. 

Am Anfang habe ich ihnen nicht geglaubt. Irgendwo war ich auch stolz darauf, anders zu sein. 

Aber jetzt kann ich mich kaum noch daran erinnern. Lachen, das mich verfolgt, welchen Lebensweg ich auch immer einschlagen werde. Gab es eine Zeit, in der ich mein Gesicht mochte, nicht bei jedem neu entdeckten Pickel in Panik ausbrach und ich im Kleidergeschäft noch voll Freude nach dem bunten Rock griff? 

Wahrscheinlich. Aber dann — es gab auch Zeiten, als es noch Dinosaurier gab. 

Vielleicht wäre es einfacher, wenn ich nur eine einzige Person hätte, die mir versichern könnte, dass Aussehen nicht alles ist und dass ich nicht nur dazu lebe, anderen zu gefallen. 

Aber selbst meine eigene Mutter sagt mir, ich wäre hässlich. Ich soll doch wenigstens einmal meine Beine rasieren, wie jedes andere Mädchen auch. 

Wann habe ich ihr und allen anderen nachgegeben? Angefangen die grässlichen bauchfreien Tops, mit denen ich mich unwohl fühle, zu tragen nur um herauszufinden, dass sie mich jetzt immer noch auslachen und mir sagen, ich sollte mir gefälligst etwas anziehen, das mir auch steht. Es scheint so, als könnte ich gar nicht besser werden. Mein Gewicht ist nicht einmal in irgendeiner Form behindernd. Es hat mich nie gestört, als ich noch jünger war — höchstens im Sportunterricht, wo ich beim Laufen immer die Letzte war. 

Ich schließe die Augen und lasse mir hässliche Tränen über die blassen Wangen rinnen. Meine blasse Haut, die doch schön gebräunt sein sollte. Am Boden liegen die Scherben meines Lebens, auf die langsam mein roter Lebenssaft hinunter tropft. 

Langsam hebe ich den Blick und sehe in die Reste des Spiegels. 

In meiner Verzweiflung sehe ich wirklich nicht gut aus. Meine Haare sind schon wieder viel zu lang. Halt, nein, stopp. Ein Mädchen wie ich muss lange Haare haben. Nur dann ist sie schön. Aber wieso stören sie mich dann so sehr? 

Einem plötzlichen Impuls folgend greife ich zur Schere. Ich habe das noch nie gemacht, aber ich bin am Ende jeglichen Kümmerns. 

Entschlossen nehme ich mein schwarzes Haar und schneide es auf die Kinnlänge, mit der ich mich wohlfühle. 

Ich reiße mir das ungemütliche, enge Top vom Körper und entledige mich der Hose. Ich hole den uralten Rock aus meinem Schrank, der inzwischen schon etwas zu kurz ist und ziehe meine blauen Wollsocken an, die überhaupt nicht dazu passen, aber unendlich gemütlich sind. Ich ziehe mein weißes Hemd mit dem Glitzer über den Rock, das ich sonst höchstens an Weihnachten anhabe, weil es für den Alltag zu viel ist. Dann drehe ich furchtsam den Kopf und blicke in die Scherben. 

Was ich sehe ist irgendwo noch schlimmer als zuvor. Aber trotzdem bin ich zufrieden. Denn was ich sehe, gefällt mir besser. Es sieht aus, wie ich bin. 

Behutsam bücke ich mich und sammle die Scherben auf, wasche mein Blut von ihnen und klebe sie vorsichtig wieder zu einem vollständigen Spiegel zusammen. 

Wenn meine Mutter mich später fragt, was ich schon wieder angestellt habe, werde ich antworten, dass ich nur mit dem Spiegel gemacht habe, was sie und so viele andere mir angetan haben und dass ich genauso wie der Spiegel wieder ganz werden kann. Nicht vollständig, nicht perfekt, aber genug. 

Ich blicke in den geflickten Spiegel und sehe mein geflicktes Selbst davor stehen. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, das erste seit Monaten. Es ist wunderschön. Ich bin wunderschön. 

 

Julia


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