19. Dezember

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

»Und, was war heute in deinem Adventskalender?« 

Völlig aus ihren Gedanken gerissen sah Kira auf. »Was?« 

Amüsiert schüttelte Mel den Kopf. »Ich habe gefragt, was heute in deinem Adventskalender war. Ich habe nämlich irgendeine seltsame Creme bekommen. Und du glaubst nicht, was bei meinem Bruder drin war …« 

Kira ließ ihre Gedanken wieder abschweifen. Seit Tagen das gleiche. Anscheinend bekam Mel wirklich nicht genug von ihrer Angeberei. Was interessierte es Kira, was ihre Sitznachbarin alles für Geschenke bekam, die in ihren zwei super tollen Adventskalendern auf sie warteten? Die beiden waren ja nicht mal befreundet, obwohl Mel das manchmal zu denken schien, wenn sie gerade etwas Wichtiges brauchte — die Mathehausaufgaben zum Beispiel. 

»Und, was war jetzt bei dir drin?« 

Kira unterdrückte ein Stöhnen. »Tee«, antwortete sie, offensichtlich angenervt. 

Doch die immer-unaufmerksame Mel bemerkte das natürlich nicht. »Tee? War das nicht vorgestern auch schon drin? Was hast du eigentlich für einen Adventskalender? Was wünschst du dir eigentlich auf Weihnachten? Ich hoffe ja wirklich, dass meine Eltern mir dieses neue Handy kaufen, weil mein altes muss ich schon beinahe in einer Tüte herumtragen, das Display fällt wirklich auseinander.« Mel lachte. 

Kira wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster des Klassenraums. Es würde noch knappe zehn Minuten dauern, bis der Unterricht anfing und Mel anfangen würde, leiser zu sein. Der Blick über den Pausenhof war trostlos: nasses Laub, regenfeuchter Asphalt, aber kein Schnee. Immer noch nicht, obwohl Wetterberichte ihn schon seit Tagen ankündigten. 

»Freust du dich eigentlich überhaupt auf Weihnachten? Du bist in den letzten Tagen so depressiv drauf.«

Kira drehte sich wieder um. Mel sah ehrlich verwirrt aus. 

»Nein. Nein, ich freue mich nicht auf Weihnachten.« 

»Wieso das denn? Du kriegst doch Geschenke. Und du kannst Plätzchen backen und … lässt deine Familie dich auch Weihnachtslieder singen? Oh Gott, du Arme. Aber meine auch und das ist echt nicht ganz soo schlimm. Manchmal sogar ganz witzig. Aber weißt du, meine Großtante kommt an Weihnachten immer zu Besuch und ihre Singstimme ist so hoch, ich kriege immer Kopfschmerzen davon.« 

»Immerhin kommt sie an Weihnachten.«

Stille. 

»Ja, das stimmt. Ich sehe sie sonst meistens nicht, sie wohnt ja so weit oben im Norden, bei meinen Großcousins und -cousinen.« 

Stille. 

»Kommt bei dir Familie zu Besuch?«, fragte Mel, diesmal etwas zögerlich und zum ersten Mal an diesem Tag hatte Kira das Gefühl, dass die Antwort sie wirklich interessierte. 

»Meine Oma ist letztes Jahr gestorben und sonst wohnen alle zu weit weg«, erwiderte Kira abwehrend. »Also nur ich und meine Eltern.« 

»Oh. Aber das wird doch bestimmt gemütlich, so zu dritt.« 

Versuchte Mel gerade, sie aufzumuntern? 

»Wie man’s nimmt. Wahrscheinlich gibt es wieder Stress. Das Weihnachtsessen ist zu stark gesalzen, an Weihnachten muss man in die Kirche gehen, dann war das Krippenspiel wieder zu lächerlich, ich soll auf der Querflöte irgendein Weihnachtslied vorspielen, dann habe ich mir nicht genug Mühe bei den Geschenken gegeben und kriege selbst nur irgendwelche Kleider die ich nie anziehe und Bücher über Informatik.« 

»… Informatik?« 

Kira lachte kurz, auch wenn es irgendwie nicht zum Lachen war. »Meine Eltern wollen, dass ich Informatik studiere. Das Einzige, worin sie sich einig sind.« 

»Das klingt anstrengend.« 

Kira seufzte. »Ja, kann man so sagen. Aber irgendwie gewöhnt man sich daran. Es ist ja auch nur ein Tag im Jahr. Es wäre wahrscheinlich nicht so nervig, wenn nicht vorher alle anderen so aufgeregt wären und über nichts anderes mehr reden.« 

»Willst du an Weihnachten zu mir kommen?« 

Überrascht blickte Kira auf. »Was?« 

»Ob du an Weihnachten zu mir kommen willst«, wiederholte Mel. »Bei uns sind sowieso immer viele Leute da und meine Eltern mögen dich.« 

Kira war genau zwei Male bei Mel gewesen: Einmal für ein Schulprojekt und einmal, weil Mels Mutter darauf bestanden hatte, da sie beim ersten Treffen ›so ein nettes Mädchen‹ gewesen war, dessen Schlauheit doch bestimmt einen guten Einfluss auf ihre Tochter hatte. Wenn Kira sich recht entsann, hatte dieses Treffen damit geendet, dass Mels Zimmer aussah, als hätte ein Komet darin eingeschlagen und dabei diverse Kekskrümel verteilt. Mels Mutter hatte es aber gutmütig hingenommen und Kira eingeladen, mal wieder zu kommen. Das hatte sich aber nie ergeben. 

Im Großen und Ganzen waren Mels Eltern wirklich nett — wenn auch ein bisschen zu gönnerhaft, was ihre beiden Kinder anging. 

»Wenn ich darf«, erwiderte Kira zögerlich, aber mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. 

»Klar«, erwiderte Mel grinsend. »Das wird super. Vielleicht kannst du ja deine Querflöte mitbringen.« 

Kira lachte. »Solange ich nicht zum tausendsten Mal ›Oh Tannenbaum‹ spielen muss, ist mir alles recht.« 

 

Julia

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