Der Geruch von Blut lag in der Luft.
Natürlich konnte ich ihn selbst nicht riechen, aber ich wusste, dass er da war, dass er an mir klebte, verriet, wo sich ein schlagendes Herz aufhielt, das lebendiges, frisches Blut durch pulsierende Adern pumpte, köstlich und verlockend. Wie auch immer ich es in meinem Kopf gedreht und gewendet hatte, ohne mein Herz dazu zu bringen, stillzustehen, würde ich diesen Geruch nicht loswerden können. Sie würden mein Kommen bemerken und ich würde zu ihrer Beute werden und damit wäre mein Leben, wie ich es kannte, vorbei.
Nächte lang hatte ich wachgelegen. Seit ich herausgefunden, dass das verlassene Hotel am Stadtrand, das aus unerfindlichen Gründen noch niemand abgerissen oder renoviert hatte, nicht so unbewohnt war, wie es schien; bewohnt, aber nicht von den Lebenden, konnte ich von dieser Frage nicht ablassen.
Sollte ich mich ihnen nähern, den Vampiren? Dem unwiderstehlichen Drang nachgeben, der mich jedes Mal überkam, wenn ich dem Hotel zu nahe kam? Mein ganzes Leben hatte ich mich nach etwas Größerem gesehnt. Etwas Unerklärlichem, Fantastischem, wie in all den Büchern, Spielen und Filmen in denen ich meine wachen Stunden verbrachte um der erstickenden Realität des Alltags zu entkommen.
Ich hatte meinen Freunden von den Vampiren erzählt. Sie hatten mich erst ausgelacht, dann hatte sich Besorgnis in ihr Lachen geschlichen, und als sie schließlich realisierten, dass ich vollkommen überzeugt davon war, dass das Hotel am Stadtrand ein Vampirnest war, hatten sie sich einer nach dem anderen von mir entfernt. Ich konnte es ihnen nicht verübeln.
Wer blieb schon bei einer Person, die in der Nacht von Samhain, dem Tag, der inzwischen als Halloween bekannt war, anstatt Gruselfilme zu schauen und sich schaurige Verkleidungen anzuziehen geradewegs in ein Nest voller realer Monster begab, Monster, die mir aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben aus den Adern saugen würden?
Ich schloss die Augen und nahm einen zittrigen Atemzug der kalten Luft. Mein ganzer Körper zitterte, was wohl daran lag, dass ich über meiner Jeans nur eine leichte Bluse trug. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich nicht doch den Verstand verloren hatte.
Ich hatte mich allen ernstes schön gemacht für diesen Anlass. Das Make-Up meiner Schwester geklaut und bestimmt drei Stunden vor dem Spiegel verbracht um mir diese eine Hochsteckfrisur, die ich seit einer halben Ewigkeit einmal tragen wollte, zu flechten.
Meine Eltern hatten sich auch noch darüber gefreut. Ohne Zweifel glaubten sie, ich wäre jetzt auf einer der zahlreichen Halloween-Partys, deren gedämpfte Musik bis zum dunklen, verlassenen Parkplatz des Hotels vordrang, auf dem ich mich zwischen alten Müllcontainern herumtrieb.
Ich spürte mein eigenes Herz schlagen, poch, poch, poch, ein unmissverständliches Zeichen meiner Lebendigkeit. Ein Warnsignal.
Ich gehöre hier nicht her, dachte ich, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich bin ein lebender Eindringling in der Welt der Toten. Und heute sind sie besonders hungrig.
Noch ein Atemzug, der eine weiße Wolke in die Luft malte. Würde ich mich noch länger hier draußen herumtreiben, würde die Kälte mich holen. Aber das war nicht, wofür ich gekommen war.
Ein Schritt in Richtung des in Schatten gehüllten Eingangs. Die Tür war von innen mit alten Zeitungen zugeklebt, keine Chance, zu sehen, was sich hinter den alten Samtvorhängen abspielte, die die Fenster des Hotels verdeckten.
Trotz der Kälte waren meine Hände feucht, als ich sie an den Griff der Eingangstür legte und mit einem Ruck daran zog. Sie öffnete sich fließend, einfach … zu einfach.
Hinter der Tür erwartete mich absolute Schwärze.
Was zur Hölle tue ich hier?, fragte ich mich nicht zum ersten Mal in dieser Nacht. Aber jetzt war es zu spät. Ich hatte meine Entscheidung getroffen, und wenn es eins gab, was ich konnte, dann war es, zu beenden, was ich angefangen hatte, egal, welche Konsequenzen sich daraus zogen.
Ein Schritt in das Foyer des Hotels und die Tür glitt hinter mir zurück an ihren Platz.
Mit klopfendem Herzen wartete ich darauf, dass meine Augen sich der Dunkelheit anpassten.
Sie sahen mich zuerst.
Mit einem Mal war da Licht und ich musste so heftig zusammenzucken, dass ich beinahe zurück gegen die Tür gestolpert wäre. Ein gewaltiger Kronleuchter in der Mitte der Empfangshalle hatte sich wie von selbst entzündet, geisterne Flammen tanzten und warfen die Spinnweben, welche das Kristall und Gold überzogen, in ein unwirkliches Schattenspiel, in dem ich kaum etwas ausmachen konnte. Der Leuchter hing so weit oben, dass sein Licht kaum an den Boden drang.
Trotz meiner Situation, trotz des Fakts, dass ich bald sterben würde, entwich mir ein fast schon manisches Lachen, das von den Wänden widerhallte.
Ich war nicht verrückt.
Es gab keine Weg, wie sich all diese Kerzen hätten selbst entzünden können. Es waren übernatürliche Mächte am Werk. Vampire.
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, waren sie auch schon um mich. Ich musste kaum zusammenzucken, als sie einer nach dem anderen um mich herum auftauchten, aus den Schatten des Raumes tretend, manche von der Decke hinabsteigend, bildeten sie einen Kreis um mich, die bleichen Gesichter schwach beleuchtet von den Kerzen des Kronleuchters, doch auch in dem spärlichen Licht konnte ich spitze Fänge in den Mündern einiger ausmachen, die mich mit Gier in den Augen ansahen.
Ich bohrte meine Fingernägel (heute frisch lackiert) in meine Handflächen als ich in so viele Gesichter blickte, zusah, wie sich die Zahl der Vampire von zwanzig auf bestimmt sechzig erhöhte und zuckte kaum zusammen, als ich unter ihnen das Mädchen zwei Klassen unter mir erkannte, die vor knapp drei Jahren spurlos verschwunden war. Ich hatte sie kaum gekannt, aber auch so sah ich, dass sie seit dem keinen Tag gealtert war.
Mein Blick wurde von ihr losgerissen, als eine hochgewachsene Vampirin aus dem Kreis heraustrat und nur Zentimeter vor mir stehen blieb.
»Was willst du, Lebende?«, fragte sie mich, ihre spitzen Eckzähne sichtbar, wenn sie den Mund öffnete. Ihre Stimme war ein Spiegel der Kälte, die mich zittern ließ. In ihren hellen Augen lag eine Tiefe, die nicht recht zu ihrem noch jungen Aussehen passen wollte.
»Ich will …« Ich musste schlucken, meine Kehle war trocken. »Ich will eine von euch werden.«
Bildete ich mir den Windstoß ein? Die Stimmen, die durch die Menge wogten, sicherlich nicht. Der Blick der Vampirin vor mir wurde hart wie Stein.
»Warum?«
Abermals schluckte ich, diesmal, um den bitteren Geschmack loszuwerden, der sich in meinen Mund sammelte.
»Weil ich nicht hier hingehöre. Weil ich existiere, tagein, tagaus, und irgendwann werde ich sterben und ich will mehr als dass. Nenn mich nicht Lebende. Ich lebe nicht.«
»Und du denkst, die Ewigkeit wird das ändern?«
Ihre Augen. So alt. Wie viele Jahrhunderte hatte sie gesehen? Wie viele Menschen hatten ihr Leben gegeben, dass sie leben konnte? Das Blut wie vieler war hatte ihre Venen gefüllt, sie daran gehindert, wirklich zu sterben, obwohl ihr Herz schon längst nicht mehr schlug?
»Ich will nicht sterben, in dem Wissen, dass mein Leben nichts geändert hat. Ich will …« Abermals atmete ich ein, um meine Stimme vom Zittern abzuhalten. Ich hob den Blick, sah in ihre Augen.
»Ich will nicht vergessen werden. Ich will, das man sich an mich erinnert.«
Ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht, wunderschön und schrecklich.
»Oh, das werden sie«, versprach sie mir, bevor sich ihre Zähne in meinen Hals gruben. »Willkommen, Schwester.«
Julia
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