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Unsterblich

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Ewig konnte ich leben. Zeit hatte für mich schon längst keine Bedeutung mehr. Die anderen Menschen, die sich mit mir eine Welt teilten, waren sterblich. Im Gegensatz zu mir. Eine Person wie ich würde vermutlich in ausgedachten Geschichten existieren, nur in der Fantasie eines Menschen. Sie würden mich nicht mal als Mensch bezeichnen.

Und trotzdem lebte ich mein Leben so gut ich es konnte. Versuchte nicht daran zu denken, dass meine Lebenszeit unbegrenzt war. Dass es mein Schicksal war, ewig zu leben, ohne Tod.

Es war nun schon 238 Jahre her, dass ich geboren wurde. Wohlmöglich war ich auch die einzig ewig lebende Person, da sich meine komplette Familie umgebracht hatte. Aber ich trauerte nicht, schließlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen und ich nahm es ihnen nicht übel. Denn so zu leben ist echt schwierig.

Die meisten Sterblichen würden das nicht begreifen. Sie haben ihr langes Leben nicht im Griff, stecken zu tief fest in Zielen, Festen und Traditionen, wodurch sie vergessen, dass es lang genug ist und sich vor dem Tod fürchten, obwohl dieser eigentlich schätzenswert ist. Niemand kann wissen, was nach dem Tod passiert, weshalb die Menschen Angst davor bekommen und an dem Alten festhalten wollen, obwohl sie nicht wissen, dass danach eventuell ein neues Leben kommen kann und auch nicht wissen, dass der Tod eine Befreiung von Last, ein schöner Abschluss ist.

Ihrer Meinung nach ist Unsterblichkeit göttlich, was wiederum heißt, dass es unglaublich und toll ist.

Eine riesengroße Lüge. Klar, die Vorstellung, nicht so schnell zu altern, muss gut klingen. Kein Stress, keine Grenzen, keine Zeitverluste. Aber das stimmt nicht.

Ich hatte keinen Lebenssinn. Meine Zeit war sinnlos. Seit 95 Jahren hatte ich keine Leidenschaften mehr, die Person die ich liebte, starb alt in meinen Armen. Auch wenn es schwer zu glauben ist, ich hatte alle Hobbys schon ausprobiert, doch eine Sportart oder ein Instrument ist es nicht wert, ewig zu leben. Eine Person? Ja, aber wenn man nicht gleichlange lebt? Nein, nicht wirklich.

Leider war ich kein Vampir, der das ewige Leben einfach weiterbeißen konnte. Ich musste mit den harten Tatsachen leben.

Außerdem wäre es sehr gefährlich, einfach einem Sterblichen zu erläutern, dass kein Tod auf einen wartete, sonst würde man vermutlich als Experiment in den falschen Händen landen und da war ich, um ehrlich zu sein, nicht so scharf drauf.

Ich hatte im Gegensatz zu den "normalen" Leuten viele Nachteile, doch einen Schritt war ich ihnen voraus. Ich wusste nicht nur für was es sich zu leben lohnte, ich verstand es mit meinem ganzen Ich.

Materielle Dinge hatten keine Bedeutung. Personen, die Trennungsängste von materiellen Dingen hatten, verstand ich nicht. Genauso wenig wie Personen, die an ihren technischen Geräten klebten. Warum verstanden sie nicht, dass es so viele wichtigere Dinge gab, wie die Natur, Menschen oder Tiere? Die Schöpfung, die uns geschenkt wurde, die Menschen, die uns lieben und diese ganze wundervolle Vielfalt?

Denn wenn man als Sterblicher sich wirklich mehr Zeit wünscht, weil die Zeit anscheinend zu schnell vergeht, dann sollte man überdenken, was wirklich wichtig für einen ist, Respekt haben und die Zeit mit den Personen und in den Gegenden verbringen, die man liebt. Denn erst dann hat man den Sinn des Lebens verstanden und lebt ein Leben, dass sich lohnt.

Denn die Zeit ist nicht das was zählt, sondern wie man die Zeit füllt.

 

Ich würde alles geben, um das Leben mit einem ,,normalen", sterblichen Menschen zu tauschen, selbst wenn dessen Schicksal bedeutete, dass er mit jungen Jahren starb. Vielleicht klingt das verrückt und zu selbstlos - aber ich mochte die Vorstellung zu sehr, eines Tages aufgrund meines Alters zu sterben.

Aber bis sich das erfüllen würde, versuchte ich, die Zeit herumzukriegen und andere Menschen so gut es eben ging, glücklich zu machen.

 

Letta

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