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Die grüne Gabe

Sie sog die frische Luft ein. Um sie herum waren dünne, bunte Bäume. Wie lang war sie hier schon? Jegliches Zeitgefühl war ihr entgangen und sie schaute sich um. Blätter in den unterschiedlichsten Grüntönen umgaben sie und sie genoss den farbenfrohen Moment.

 

Im Wald war es still, bis auf ein paar einzelne Vogelstimmen und Ameisen, die über den sandigen Boden stapften.

 

Ihre giftgrünen Augen prägten sich das Bild ein, jede einzelne Facette. Die groben Rinden, die holzigen Wurzeln, die an manchen Stellen aus der Erde auftauchten, um die süße Luft zu atmen. Aber auch die vielfältige Blätterzahl, das braune Laub, die trockenen Steine, das im Schatten liegende Moos, das hohe Gras, die blättrigen Kräuter und jegliche Insekten und Tiere, die den Wald zu dem Ort machten, den sie so liebte.

 

Ein Eichelhäher landete auf einem knorrigen Ast, nur wenige Meter von ihr entfernt. Die grellen Augen musterten ihn interessiert und sorgfältig. Sie schloss die Lider, sah das Gefieder, die schlauen Augen und die starken Krallen vor sich und atmete tief ein. Wie oft spürte sie den leichten Schwindel und im nächsten Moment spreizte sie ihre samtigen Federn und reckte den frechen Kopf. Den Schnabel öffnend und freudig kreischend erhob sie sich von dem knorrigen Ast und flog durch das schützende Blätterdach hinaus in Richtung Freiheit.

 

Nach hunderten Flügelschlägen landete sie auf einem jungen, stabilen Ast und blickte sich um. Die dunklen Pupillen beobachteten einen großen Haufen aus Stöcken und Laub, auf dem sich tausende Ameisen tummelten. Als die spitzen Krallen sich in den weichen Untergrund bohrten, wurde sie angegriffen. Dutzende winzige Ameisen kletterten ihre dünnen Beine hoch, hielten sich in den Federn fest und spritzten aggressive Säure, die sich bis an ihre Haut festklebte. Mit geschlossen Augen und schlagenden Flügeln genoss sie die Massage.

 

Das Braun verwandelte sich wieder in das giftige Grün. Stark konzentrierend fokussierte sie eine braun-schwarz glitzernde Ameise, verfolgte ihre hektische Bewegung. Ohne Zögern schloss sie die Lider und erinnerte sich an die Schönheit, die sie sich eben erst eingeprägt hatte.

 

Ein Blinzeln später befand sie sich in dem kleinen Körper mit den sechs flinken Beinchen. Sie wurde grob umher geschubst und versuchte, sich an einer großen Tannennadel festzuhalten. Doch sie schaffte es nicht, also ließ sie los und ihre Beine liefen von alleine über die Erde und Stöcke, immer der Menge hinterher. Ihre Fühler winkten hektisch umher, den Blick auf das riesige Federtier gerichtet.

 

Plötzlich wurde sie weit nach hinten katapultiert, sie verlor jegliche Orientierung und landete unsanft auf einem Stock. Verwirrt rappelte sie sich eilig auf und sah gerade noch den Eichelhäher, der mit kräftigen Flügelschlägen und mit lautem Geschrei aus ihrem Sichtfeld verschwand. Kopfschüttelnd machte sie sich an die Arbeit, das Chaos aufzuräumen, das der gemeine Vogel durch seine Flügelschläge verursacht hatte. Unzählige andere Ameisen tummelten sich um jene Stelle und mit einem Ruck stemmte sie ein Blatt hoch und machte sich auf den Weg, es beiseite zu bringen.

 

Die schlangenähnlichen Augen starrten neugierig auf einen bunten Schmetterling, dessen Flügel mit einem feurigen Muster bedeckt waren. Fasziniert betrachtete sie die grellen Farben, die dünnen, schwarzen Beine und die schwarzen, runden Augen.

 

Abermals schloss sie die Lider, erinnerte sich an das wunderschöne Geschöpf und nach einem leichten Schwindel reckte sie ihre schwarzen Beine und spürte den weichen Wind an ihren farbigen Flügeln. Die Hoffnung und Freude, die sie aufgrund der Schläge ihrer Flügel spürte, wurde durch die gelben Blüten verstärkt, denen sie sich schnell näherte. Geschmeidig setzten ihre Füße auf den sonnengleichen Blättern ab und als hätte sie nie etwas anderes getan, fuhr sie ihren langen Rüssel aus und schmeckte den süßen Geschmack des sommerlichen Nektars.

 

Mit müden Flügeln und Fühlern saß sie schweigend auf dem dicken, saftigen Grashalm und sog die friedliche Luft und den unbeschreiblichen Duft auf.

 

Das Schwarz, das ihre geschlossenen Lider empfingen, verwandelte sich in eine bunte Vorstellung. Das Bild ihres großen Körpers erschien, sie malte sich das bekannte Gefühl aus und als sich ihre grünen Augen öffneten, stand sie mit ihren nackten, gebräunten Füßen auf dem sandigen Boden. Wieder war sie so groß wie manch kleine Bäume und Sträucher und sie seufzte, als sie den orangenen Schmetterling davonfliegen sah.

 

Ihre Zunge leckte über die trockenen Lippen, der Wind spielte lustig mit ihren schwarzen Haaren. Wie immer gekleidet in das kurze Latzhosen-Kleid mit dem blattfarbenen Gürtel und den kecken Sommersprossen im Gesicht, lief sie weiter über den sonnigen Weg. Ihre Finger streiften die langen Halme am Wegesrand und streichelten im Vorbeigehen die groben Rinden. Sie war dankbar für ihre Gabe und genoss den Abend in ihrer Heimat.

     

Helle Sonnenstrahlen kitzelten ihre Wangen und so lief sie weiter, in Richtung Sonne und grünen Frieden.

 

Letta

 


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